Einkäufer im Markt: Herr Schumann, was können Einkäufer von der Spieltheorie lernen?
René Schumann: Zunächst einmal: Im Mittelpunkt steht die Frage, wie führe ich Verhandlungen? Verhandeln ist ein Handwerk, das sich erlernen lässt. Die Spieltheorie ist eine Methode, die bei der Verhandlungsführung eingesetzt werden kann. Man kann sie sich vorstellen als einen Flickenteppich aus einzelnen Spielen und Abläufen. Daraus können Einkäufer lernen und diese Methode in ihren Verhandlungsalltag integrieren.
Können Sie ein Beispiel geben?
Sehr bekannt ist das Spiel „Gefangenendilemma“. Hierbei werden zwei Sträflinge einer Drucksituation ausgesetzt, die sehr transparent ist und durch die Polizei hergestellt wird. Die Sträflinge müssen sich unabhängig voneinander entscheiden, ob sie aussagen oder schweigen wollen. Im Sinne eines Gesamtoptimums wäre es sinnvoll, wenn beide schweigen würden. Die Spieltheorie sagt aber genau das Gegenteil: In einer solchen Situation möchte sich jeder selbst optimieren und wird aussagen. Das Gleiche passiert in Verhandlungen: Jeder will seine eigenen Ziele erreichen und dadurch kommt das Gesamtoptimum nicht zustande. Für den Einkauf, der sich beispielsweise mehreren Lieferanten gegenüber sieht, heißt das: Baue ein Gefangenendilemma auf! Die Lieferanten sind dann quasi die Straftäter, denen der Einkäufer aber nicht mehr in einer 1:1-Verhandlungssituation gegenüber sitzt. Der Einkäufer wird zum Polizisten, der Transparenz zwischen den Lieferanten herstellt und die Spielregeln im Verhandlungsprozess definiert und sicherstellt. Dadurch können selbst eingeschworene Kartelle zwischen Lieferanten ausgehebelt werden.
Warum geraten Verhandlungen oftmals in eine Sackgasse und was macht der Einkauf falsch?
Grundsätzlich muss man zwischen zwei Ebenen unterscheiden. Zum einen die Meta-Ebene, bei der es darauf ankommt, vor der eigentlichen Verhandlung eine Strategie aufzubauen. Wir von Kerkhoff Negotiations nennen das „War Gaming“, das heißt, der Einkauf baut sich einen Entscheidungsraum und definiert für sich, wo stehe ich heute, wo möchte ich hin und welche Optionen gibt es im Verhandlungsprozess. In der Realität geschieht dieses abstrakte „Optionen identifizieren und bewerten“ und daraus einen „Schlachtplan“ erarbeiten leider sehr selten. Das zweite ist die mentale Ebene. Hier unterlaufen dem Einkauf operative Fehler. Das kann die fehlende Augenhöhe gegenüber dem Verhandlungspartner sein oder dass man den Konflikt in einer Verhandlungssituation nicht aushält. Häufig ist von einer Win-Win-Situation die Rede. Das funktioniert dann, wenn die andere Seite auch an einem gemeinsamen Erfolg interessiert ist. Was aber, wenn der Verhandlungspartner sich als „harter Brocken“ erweist? In einer solchen Situation nimmt der Einkauf oftmals eine zu passive Haltung ein und ermöglicht so der Gegenseite, ihre Ziele auf Kosten der Ziele des Einkaufs zu erreichen.
Bei der Spieltheorie sollen Emotionen aus der Verhandlung herausgenommen werden, weil sie angeblich hinderlich seien. Aber kann man das so verallgemeinern? Gibt es vielleicht Situationen, in denen Emotionen sogar förderlich sein können?
Es geht nicht darum, Emotionen komplett auszublenden, das wäre auch gar nicht möglich. Wichtig ist, Emotionen im Rahmen des Entscheidungsprozesses, also auf der Meta-Ebene, zu managen. Konkret heißt das, Ziele sauber und ohne Emotionen zu definieren. In der konkreten Verhandlungssituation, im Infight sozusagen, muss ich in der Lage sein, die Emotionen im eigenen Team frühzeitig zu erkennen und zu managen. Gleichzeitig gilt es, beim Gegenüber Emotionen zu antizipieren und diese bewusst zu steuern. Dabei setzen wir im Verhandlungsalltag verschiedene Instrumente der Verhaltensökonomie gezielt ein. Das Verhandeln mit Monopolisten ist hierfür ein gutes Beispiel. Wir stellen oft fest, dass der Einkauf in einer Situation, in der er seit Jahren mit demselben Lieferanten verhandelt, dessen Argumentation und auch Emotionalität übernimmt und im eigenen Unternehmen vertritt.
Hier wäre es sinnvoll, den Verhandlungsführer zu ergänzen oder gegebenenfalls auch auszutauschen. Damit nehme ich die Emotionen heraus.
Den Verhandler herausnehmen, das stelle ich mir schwierig vor. Das kann den Betroffenen schädigen und zu einem Gesichtsverlust führen.
Selbstverständlich sollte so etwas gesichtswahrend geschehen. Es empfiehlt sich, dass der Einkäufer, der bisher die Verhandlungen geführt hat und der oft auch die beste Beziehung zum Lieferanten hat, zur Seite tritt und jemand anderem die eigentliche Verhandlungsführung überlässt. Er kann weiter Teil des Verhandlungsteams bleiben, konzentriert sich aber auf die Beziehungsebene. Wichtig ist, dass der Einkäufer, der auf der emotionalen Ebene agiert, „sauber“ bleibt, sich also nicht in den Verhandlungssumpf begibt. Ganz konkret könnte er am Beginn einer Verhandlung sagen: „Ich glaube an die Beziehung mit Ihnen als Lieferanten und dass wir unsere Ziele erreichen werden. An dieser Stelle möchte ich das Wort meinem Kollegen übergeben.“
Nicht selten wird in Verhandlungen noch über die zweite Nachkommastelle beim Preis gefeilscht. Ist das sinnvoll, setzt der Einkauf vielleicht falsche Prioritäten?
Es ist nicht zielführend, ausschließlich in der Vorbereitung nur auf Zahlen-Daten-Fakten zu setzen. Der Einkauf investiert nach meiner Erfahrung zu wenig Zeit in die mentale Vorbereitung einer Verhandlung. Das führt dazu, dass Einkäufer oft nicht so gut mit emotionalen Verhandlungssituationen umgehen können und ihre eigene Verhandlungsmacht oft unterschätzen. Vertriebler sind hier oft besser unterwegs. Das liegt auch an dem Ungleichgewicht bei den Schulungsbudgets – das Verhältnis ist hier 7:1 für den Vertrieb. Was die Prioritäten betrifft: Es hat ja viele Jahre gut funktioniert. Wenn der Einkauf in der Situation ist, dass er zwischen mehreren Lieferanten auswählen kann, dann stellt sich bei ihm das Gefühl ein, in der Verhandlung der Gewinner zu sein. Dann muss man sich auch nicht in letzter Konsequenz vorbereiten. Aber mittlerweile ist das Ende der Fahnenstange erreicht und Einsparungen sind mit herkömmlichen Methoden kaum noch möglich. In dieser Situation bietet sich die Spieltheorie an.
Inwiefern?
Die Antwort der Spieltheorie lautet: Raus aus der konkreten 1:1-Verhandlungssituation, baue eine abstrakte Ebene auf, um neue Optionen ins Spiel bringen zu können. Ganz wichtig ist auch, die Verhandlungsstrategie intern abzustimmen und vom Management absegnen zu lassen. Denn der Einkauf hat häufig das Problem, dass er vom Lieferanten als nicht glaubwürdig wahrgenommen wird. Die Spielregeln für die Verhandlung sollten schriftlich fixiert und vom Vorstand unterschrieben werden. Damit kann der Einkauf zeigen, dass er Verhandlungsvollmacht hat und entscheidungsbefugt ist. Bisher ist es oft so, dass der Lieferant nach einem Verhandlungsergebnis noch einmal einen Anruf vom Einkaufsleiter bekommt nach dem Motto „Wir brauchen noch ein Prozent mehr“. Mit Rückendeckung vom Topmanagement passiert das nicht mehr.
Nicht selten ist es so, dass die Technik einen Lieferanten präsentiert und der Einkäufer zusehen muss, dass er beim Preis noch etwas rausholen kann. Wie kann der Einkauf seinen Verhandlungsspielraum vergrößern?
Zunächst muss man sich anschauen, wie ein typischer Vertriebler vorgeht. Der geht nämlich nicht zum Einkauf, sondern erst einmal zur Qualitätssicherung, zur Entwicklung oder zur Logistik und holt dort Informationen ein. Dabei „framed“ er seine Ansprechpartner in den Fachbereichen und diese wirken wiederum mehr oder weniger subtil auf den Einkauf ein. Der Einkauf kann dem entgegenwirken, indem er sich mit den Fachbereichen abstimmt, zum Beispiel durch crossfunktionale Workshops. Es empfiehlt sich, sämtliche Lieferanten, sowohl die potenziellen als auch die Bestandslieferanten, anhand eines Bonus/Malus-Systems zu bewerten. Dabei sind neben quantitativen Aspekten wie etwa Ausschussquote oder Liefertreue auch qualitative Kriterien heranzuziehen. Zum Beispiel, ob der Lieferant auch zu ungünstigen Zeiten zu erreichen ist. Diese qualitativen Gesichtspunkte werden quantifiziert und fließen in die Entscheidung für oder gegen einen Lieferanten ein. Das Besondere daran ist: Alle Lieferanten werden vergleichbar gemacht. Ein Lieferant kann dann in einer Verhandlung nicht mehr damit argumentieren, dass er beispielsweise besonders zuverlässig ist – das wurde ja schon in der Lieferantenbewertung berücksichtigt.
Welche Erfolge sind mit dieser Verhandlungsmethode möglich?
Zum einen kann sich der Einkauf aus der Sandwich-Position zwischen Entwicklung und Lieferant lösen. Er wird zum „process owner“ und befindet sich auf Augenhöhe mit den internen Fachbereichen, aber auch gegenüber dem Lieferanten. Zum anderen lassen sich erhebliche Einsparungen erzielen – nach unserer Erfahrung sind, je nach Warengruppe, zwischen 8 und 12 Prozent möglich. Zu einem regelrechten Preisrutsch kommt es häufig bei Warengruppen, wo man nichts mehr vermutet hätte. Gerade in der aktuell schwierigen Lage können es sich die Unternehmen nicht leisten, etwas zu verschenken. Sie entscheiden sich für die Spieltheorie, weil sich damit maximale Einsparungen erzielen lassen.
Gilt das auch für mittlere und kleine Unternehmen?
Die von der Spieltheorie inspirierte Verhandlungsmethode wurde vor gut zehn Jahren von großen Konzernen aufgegriffen. Zwischenzeitlich ist das über die Lieferkette komplett im Mittelstand angekommen. Voraussetzung für die Anwendung ist nicht die Unternehmensgröße, sondern die genaue Analyse von Warengruppen. Ab einem Verhandlungsvolumen von 5 Millionen Euro lohnt sich der Mehraufwand für die Vorbereitung und die crossfunktionale Abstimmung. Wir haben auch Kunden mit 100 Mitarbeitern, die aber eine Warengruppe mit einem großen Volumen beschaffen – da lohnt es sich sehr wohl, diese Methode einzusetzen.
Herr Schumann, herzlichen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Mark Krieger.
Best Practice
So erzielen Sie mit dem richtigen Verhandlungsdesign Erfolge
Wie lässt sich die Spieltheorie im Einkauf anwenden? Im Folgenden werden anhand dreier Praxisbeispiele konkrete Anwendungen illustriert.
Fall 1: Entscheidung unter Zeitdruck. Hier musste dringend eine neue Roboterschweißanlage beschafft werden. Das Budget war begrenzt und der Einkauf stand unter Zeitdruck. Zudem war neben dem bisherigen Lieferanten nur ein weiterer Anbieter bekannt. Das Verhandlungsdesign sah so aus: Beide Lieferanten hatten zunächst die Möglichkeit, ihr erstes Angebot nachzubessern. Der Lieferant mit dem besten Angebot ging dann als Erster in die folgende Auktion, die bei 80 Prozent der vorliegenden Offerte begann. Danach wurde in mehreren Schritten jeweils ein höherer Preis aufgerufen. Die Lieferanten, die in getrennten Räumen saßen, konnten parallel die jeweiligen Preise annehmen oder ablehnen. Nimmt ein Lieferant an, ist die Auktion sofort entschieden. Je eher ein Lieferant zuschlägt, desto günstiger die Investition.
Ergebnis: Der Vergabepreis lag um mehr als 10 Prozent unter dem ursprünglichen Angebot. Die Vergabe wurde innerhalb von vier Wochen abgeschlossen – nicht einmal halb so lange wie sonst üblich.
Fall 2: Verhandeln mit Monopolisten. Ein Hersteller von Hochgeschwindigkeitszügen hatte für die Bestellung von Ersatzteilen im Wert von über 100 Millionen Euro nur einen zugelassenen Lieferanten. Hier wurden zwei Richtpreise festgelegt, zwischen denen der Lieferant entscheiden konnte: bisheriger Preis plus zusätzliche Service-Leistungen oder Preis ohne Zusatzleistungen, aber mit zweiprozentiger Preisreduktion. Dem Lieferanten wurden gleichzeitig Chancen und Risiken unterbreitet. Dazu zählte zum Beispiel eine lange Vertragslaufzeit und ein Bonus für spätere Folgevergaben, aber auch die begründete Aussicht, dass bei späteren Vergaben andere Anbieter zum Zuge kommen könnten. Sollte der Lieferant keinen der beiden Richtpreise akzeptieren, blieb ihm die Möglichkeit, ein einziges finales Angebot zu unterbreiten. Allerdings machte ihm der Einkauf klar, dass jede Preiserhöhung zu einer reduzierten Laufzeit führen würde – bis hin zu einer kurzfristigen Notlösung für sechs Monate und einer sofortigen Neuausschreibung.
Ergebnis: Der Lieferant nahm die erste Option an und erhielt einen 7-Jahres-Vertrag sowie den Bonus für eine Folgevergabe. Der Zughersteller erhält die Ersatzteile nun ohne Preiserhöhungen und mit besserem Service und hat überdies mehr Planungssicherheit.
Fall 3: Verhandeln mit vielen Teilnehmern. Der Kunde musste seine Drucker samt Zubehör und Verbrauchsmaterial erneuern. Fünf Anbieter kamen in Betracht. Verhandelt wurde beim Kunden, die Lieferanten konnten ihre Angebote aufgrund der ihnen vorher zur Verfügung gestellten Unterlagen noch einmal aktualisieren. Wer anschließend wissen wollte, wie sich die anderen Bieter verhalten haben, hatte zwei Möglichkeiten, dazu Informationen „einzukaufen“. Der Preis für die Information, wie groß der Abstand zum besten Bieter ist bzw. über das Gesamt-Ranking, bestand in einem Preisnachlass. Mit diesem neuen Wissensstand konnte ein neues Angebot abgegeben werden. Dieses wurde bewertet und die nicht wettbewerbsfähigen Angebote wurden aussortiert. Mit den verbliebenen Teilnehmern gab es eine direkte Verhandlungsrunde, die mit einer Rückwärtsauktion und der sofortigen Vergabe endete.
Ergebnis: Wer meint, dass bei Druckern nichts mehr zu holen ist, hat sich getäuscht. Der erzielte Preis lag fast 10 Prozent unter Budget und fast 20 Prozent unter dem Eingangsgebot des Lieferanten.
MBI Einkäufer im Markt
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