16.12.2021

Auswege aus Engpässen

Beschaffung gleicht aktuell War Gaming. Doch auch ohne Störfälle in unsicheren Zeiten steigt die Komplexität, um die richtigen Entscheidungen in der Supply Chain zu treffen.

Ob Corona-Pandemie, ob Suez-Kanal-Stau, ob Brexit, ob verändertes Kaufverhalten im privaten Sektor oder ob insolvenzbedrohte Unternehmen – die Verknappung von Rohstoffen und damit lange Durchlaufzeiten im internationalen Warenverkehr sind omnipräsent. Die Anfälligkeit von Logistikketten steigt in der Volatilität internationaler Wirtschaftsmärkte überproportional. Aktuell führen fehlende Computerchips nicht nur im Automobilsektor zu Produktionsausfällen, sondern Covid-19-Fälle in Häfen zu erheblichen Verzögerungen und Preissteigerungen in der Logistik. Dies sind nur einige prominente Beispiele.


Zudem müssen sich Unternehmen mit neuen Anforderungen des Gesetzgebers befassen. Das Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz tritt ab Januar 2023 in Kraft. Es verpflichtet Unternehmen, die Einhaltung von Standards zu Menschenrechten und Umweltschutz nachzuweisen. Firmen müssen bessere Fähigkeiten aufbauen, um Störfälle in der Lieferkette früh zu erkennen und schnell zurück in eine gute Ausgangslage zu kommen. In Kombination mit weiteren vielfältigen Risiken und neuen gesetzlichen Anforderungen ist ein mehrstufiges und kombiniertes Vorgehen im Einkauf erforderlich.


Stufe 1 gilt der kurzfristigen Versorgungsabsicherung durch Critical Parts Management. Ziel dabei ist, die interne Produktion sicherzustellen und Beeinträchtigungen bei Kunden zu vermeiden. Unternehmen sind zu befähigen, dass sie über kritische Produktionsmaterialien und Ersatzteile verfügen oder in akzeptabler Zeit geliefert bekommen können. Es ist ein Notfallplan für kritische Materialien und Bauteile zu erarbeiten und ein Überwachungssystem zu entwickeln, um gegen Lieferausfälle gewappnet zu sein. Stresstests dienen der Wirksamkeitsprüfung. Transparenz bei Beständen an Produktionsstandorten zu gewährleisten, permanent Möglichkeiten zur Standardisierung für zu beschaffene Produkte zu prüfen, Alternativlieferanten schnell zu qualifizieren und mit Kunden eng zu kommunizieren zählt zu den Maßnahmen, um gegenzusteuern und Versorgungen abzusichern.


Das systematische Einbinden interner und externer Stakeholder sollten Unternehmen ebenso nutzen, um wertanalytische Ansätze umzusetzen. Mithilfe solcher Wertanalysen ist beispielsweise die Versorgungssicherheit zu erhöhen – etwa durch das Vereinfachen der Produktfunktionen. Das kritische Prüfen von Produkt-Spezifikationen, das damit einhergehen könnte, ermöglicht auch, alternative Materialien zu identifizieren. Dadurch ergeben sich zwei positive Effekte: Die Versorgungssicherheit wird durch eine erweiterte Lieferantenbasis erhöht, Kosten sind durch den Einsatz von Alternativmaterialien zu reduzieren.


Value-Chain-Allianzen mit Kunden, Lieferanten und anderen Unternehmenspartnern eröffnen weitere Chancen. In der Logistik können gemeinsam Frachtschiffe angemietet oder durch das Bündeln von Bedarf ganze Produktionslinien bei Zulieferern belegt werden. Nach der Analyse und Identifikation aller kritischen Teile liefert ein Critical Parts Dashboard in Echtzeit relevante Informationen zu Risiken.


Stufe 2 setzt auf die mittelfristige Professionalisierung des Supply Chain Risk Managements. Das lückenlose Managen von Risiken entlang der Lieferkette ist nur in wenigen Unternehmen fest verankert. Ein radikales Umdenken zu Prozessen und eine bessere Prognosefähigkeit sind notwendig, um auf Extremsituationen effektiver reagieren zu können. Transparenz zur End-to-End-Supply-Chain ist herzustellen. Dies erfordert eine reibungslose und übergreifende Zusammenarbeit von Funktionen und Unternehmen entlang des kompletten Lieferkettennetzwerkes. Unternehmens- und Lieferkettenstrukturen mit Prozessen sind datengetrieben mithilfe eines sogenannten „Digital Twins“ echtzeitbasiert abzubilden. Auf diese Weise kann die Widerstandsfähigkeit der Lieferkette kontinuierlich überprüft und die Reichweite der Störung ermittelt werden, die im Zusammenhang mit dem Produktportfolio und der Netzwerkstruktur steht.


Schwachstellen nach Auswirkung und Eintrittswahrscheinlichkeit priorisieren

Ist der digitale Zwilling abgebildet, können mittels WarGaming-Ansatz auch Szenarien entwickelt und Schwachstellen identifiziert werden innerhalb der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsstufen. Schwachstellen werden im nächsten Schritt nach Eintrittswahrscheinlichkeit und monetärer Auswirkung priorisiert und Maßnahmen mit dem Ziel abgeleitet, die Supply Chain resilienter zu gestalten.


Ist der digitale Zwilling aufgebaut und ein intaktes Supply Chain Risk Management implementiert, stellen Gesetze für Unternehmen weniger große Herausforderungen bei der Umsetzung dar. So kann das Datenmodell etwa dafür genutzt werden, den CO2-Fußabdruck eines Unternehmens zu reduzieren, indem unwirtschaftliche Produktions- oder Distributionsstandorte schließen ohne negative Auswirkungen auf Service-Level zu verursachen. Außerdem lassen sich durch die frühe Risikoklassifizierung der Lieferanten neue Anforderungen auf die gesamte Wertschöpfungskette einfacher umsetzen, beispielsweise zum Einhalten des Lieferkettensorgfaltspflichtgesetzes.


In Stufe 3 gelingt durch Komplexitäts-Management die langfristige Reduzierung von Risiken. Grundsätzlich sind multiperspektivische Ansätze zu verfolgen, um die Vielzahl verschiedener Risiken im Griff zu behalten. Kundenbedürfnisse und Produktsortiment sind zu analysieren und „Margenvernichter“ zu identifizieren, um Komplexität im Unternehmen zu verringern oder besser zu beherrschen. Herausfordernde Aufgabe des Komplexitäts-Managements ist, für das Leistungsprogramm die optimale Produktvielfalt zu erkennen und für den Erhalt ideale Lösungen zu entwickeln – für Wertstrom, Geschäftsprozesse und Organisationsstruktur. Entscheidende Wettbewerbsvorteile für den Produktentstehungsprozess bietet neben dem funktionierenden Komplexitäts-Management auch die frühzeitige Risikoanalyse.


Für kleine und mittlere Losgrößen bietet die additive Fertigung, auch 3-D-Druck genannt, eine weitere Perspektive, um Flexibilität und Verfügbarkeit sicherzustellen. Dies erlaubt, dass dezentrale Fertigungszentren errichtet und Bauteile nicht mehr zentral gefertigt und global verteilt werden müssen. Internationale Warenströme können auf diese Weise reduziert, Zeiten und Wege im Transport verkürzt, Kosten gespart und der CO2-Fußabdruck verringert werden.

Risk Management ist systemrelevant für Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit 

Durch die kritische Kombination aus unvorhergesehenen und gesetzgeberischen Anforderungen werden künftig Entscheidungsprozesse rund um die Supply Chain noch komplexer. Das frühzeitige Implementieren eines umfassenden Supply Chain Risk Managements ist daher systemrelevant, um die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen zu erhalten.

Beide Autoren sind Mitglieder der Geschäftsleitung in der Kerkhoff Consulting GmbH, die für Unternehmenskunden insbesondere den Einkauf beraten, die Beschaffung optimieren und im Supply Chain Management unterstützen.


Jens Hornstein fokussiert auf direkte Warengruppen und Digitalisierung bei Versorgern, Medien oder Maschinen- und Anlagenbau.


Stephan Weaver kümmert sich hier speziell um Produktion, Restrukturierung und Change Management in der Automobil- und Energiebranche.


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